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Der anregende Stuhl in der Hofbibliothek

Ich ging eine alte Treppe hoch zur Wiener Hofbibliothek. Schon an der Türe stand ein Mann in Uniform. Mehrer Männer in Uniform bewachten die literarischen Schätze in der alten Bibliothek von Wien. Staunend, ja ehrfürchtig betrat ich den riesigen, ja gigantischen Saal dieser barocken Bibliothek. Erbaut 1716 nach den Plänen von Joseph Emanuel Fischer von Erlach und seinem Sohn. Zuerst drang mein Blick geradeaus vor. Zwischen einer Reihe von alten Buchregalen hindurch verlor sich mein Blick im Schummrigen zwischen hellen Skulpturen und großen Globuskugeln. Dann ließ ich meinen Blick in die Höhe schweifen. Über eine Wand aus unzähligen Buchrücken. Nach zwei wunderbar bemalten Tonnengewölben bildete eine wohl dreißig Meter hohe Kuppel den faszinierenden Mittelpunkt dieser historischen Bibliothek. Dann folgten wieder zwei lange Tonnegewölbe. Ich bekam schier eine Genickstarre. Dieser herrlich gestaltete Bibliotheks-Himmel überdeckt eine Fläche von über tausend Quadratmetern. An den hohen Bücherregalen standen rollbare Treppen. Zwischen den Bücherwänden, die alle mit einheitlich gebundenen Büchern ausgestattet waren, war die einer oder andere Geheimtüre leicht geöffnet. Dahinter waren Zimmer zu sehen, in denen früher sicher die Wissenschaftler oder die Ärzte oder die Juristen mit Perücken auf dem Kopf die Lektüre studierte hatten.

Nachdem ich mich unter der mächtigen Kuppel hingesetzt hatte, um im Paradies der Bücher ein wenig zu meditieren, kam ein Uniformierter auf mich zu. Ich dachte schon, ich hätte etwas Unerlaubtes getan. Mich vielleicht auf einen Stuhl niedergelassen, der gar nicht zum Hinsetzen gedacht war. Auweia! Doch es kam anders. Wenn ich später etwas Besonderes sehen möchte, würde er mir das gerne zeigen, sagte der Uniformierte freundlich zu mir. Gut, nach einer Weile nahm ich dieses Angebot wahr. Er zeigte mir einen hölzernen Stuhl, in dessen Sitzfläche die Löcher so angeordnet waren, dass sie einen Stern bildeten. Den Stern der Sowjets. Auf diesem Stuhl war nach dem Zweiten Weltkrieg ein literaturbegeisterter General der siegreichen sowjetischen Armee gesessen, wurde mir berichtet. Der hatte sich diesen Stuhl für seine Aufenthalte hier in der Wiener Hofbibliothek extra anfertigen lassen. Der General hatte sich in eine Wienerin verliebt, die ihm die Hofbibliothek gezeigt hatte. Der General war ein Russe aus Moskau. Er war ein Freund der deutschen Literatur. Sein Vater war Bibliothekar gewesen. Deswegen soll dieser General auch verhindert haben, dass die Wiener Hofbibliothek ausgeraubt wurde.

Eine Lieblingsstelle des Generals waren die Gedanken einer liebenden Frau in dem Roman „Godwi“ von Clemens Brentano, die der General seiner Wiener Freundin beim Abschied zitierte: „Seufzend blickte ich nach dem wunderheimlichen Sopha, der Wiege so mancher süßen Annäherung, trat in die Bibliothek, verhüllte meinen Busen, damit mein Herz nicht zutage liege, setzte mich auf einen unbequemen Stuhl und legte das letzte Päckchen Briefe vor mich auf den kalten Marmortisch.“ Danach hat der General seiner Wiener Freundin nicht nur alle ihre Liebesbriefe an ihn zum Abschied überreicht, weil er nach Moskau zurück musste. Er hat ihr auch seinen Stuhl mit dem Stern in der Sitzfläche als Andenken geschenkt, den sie aber wiederum der Hofbibliothek überließ, wusste der Uniformierte. Sie war nämlich die Tochter des damaligen Bibliotheks-Direktors gewesen.

Ich durfte mich sogar auf den legendären Stuhl des Generals setzen und eine Weile nachdenken. Der Uniformierte stellte sich wie eine Leibgarde neben mich. Dabei zitierte er aus dem Gedächtnis: „Ich hatte alles vergessen, sie und mich, der Kuss, den er mir raubte, hatte den ganzen stolzen Tempel meiner Weisheit zusammengestürzt. Der Kontrast war so groß, dass er mich stärkte. Ich nahm alle meine Gewalt zusammen, und bat ihn, gleich den andern Tag wegzureisen. Er kniete vor mir, und bat auch, nun musste ich befehlen, und er reiste.“ Er habe sich dieses Buch von Brentano gekauft, nachdem er die Geschichte vom Stuhl des Generals erfahren habe, erklärte mir der Uniformierte. Er habe nach der Schule keine Bücher mehr gelesen. Aber durch den General und seinen wundersamen Stuhl sei er motiviert worden wieder in ein Buch – und dann – in viele andere zu schauen.

Ich beschloss, wenn ich mal viel Zeit und genügend Geld habe, was wahrscheinlich nie der Fall sein wird, mir auch einen Stuhl extra für meine Bibliothek machen zu lassen. Aber welches Symbol soll meine Sitzfläche dann zieren? Vielleicht ein Fragezeichen?

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