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Der Ruf vergangenen Glücks

Es heißt, ein Freund sei jemand, der dir die Melodie deines Herzens vorsingt, wenn du sie selbst vergessen hast. Wie ich jetzt feststellte, gilt das auch für Bücher. In meinem Fall für »Der Club der toten Dichter« von Nancy H. Kleinbaum. Ich hatte ganz vergessen, welche glückliche Bestätigung meiner Gedankenwelt mir dieses Buch schenkte, das ich vor langer Zeit gelesen habe.


Die Freude an Poesie und Kreativität, das Entwickeln eigener Gedanken und nicht zuletzt das Betreten neuer, unerforschter Wege, all dies pflanzte mir der unkonventionelle Lehrer Keating damals ins Herz. Am prägendsten jedoch war seine Forderung nach Individualität. Natürlich pflügte ich mich begierig durch alle Literaturverweise des Buches. Ich verlor und fand mich in Henry David Thoreaus »Walden«, entdeckte in den Gedichten Robert Frosts die Freude am Außergewöhnlichen und lernte seinerzeit gar ganze Textpassagen wie auch den Schlussmonolog des Waldelfs Puck aus Shakespeares »Sommernachtstraum« auswendig.


Heute, Jahrzehnte älter, sehe ich die Welt aus erwachsenen Augen. Leise und unmerklich hat sich die Poesie aus meinem Leben geschlichen. Wo früher verheißungsvolle Geheimnisse des Alltags auf mich warteten, plagen mich heute manchmal Sorgen um Geld, Job, Familie. Blickte ich damals mit Freude in die Zukunft, halten mich heute Zukunftsängste so manche Nacht wach.


Doch das ist ja das Schöne an der Literatur, dass sie immer ein wenig des vergangenen Glücks speichert und vergessene Träume zurückruft. Denn was bedeutet schon die gemeinsame Steuererklärung, wenn sich meine Frau doch so viel mehr über ein selbstgeschriebenes Gedicht freut…

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