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Dichtender Mediziner

"Du füllst mich an wie Blut die frische Wunde
und rinnst hernieder seine dunkle Spur,
du dehnst dich aus wie Nacht in jener Stunde,
da sich die Matte färbt zur Schattenflur,
du blühst wie Rosen schwer in Gärten allen,
du Einsamkeit aus Alter und Verlust,
du Überleben, wenn die Träume fallen,
zuviel gelitten und zuviel gewusst."

expressionismusDiese erste Strophe eines mir bis dato unbekannten Gedichts zitierte der Sohn einer Freundin: Er hat nach dem 4. Semester seines Medizinstudiums sein Lebensziel überdacht und will einen gänzlich anderen Weg einschlagen, kurzum: Er will das Studium schmei- ßen. Schriftsteller will er werden.

Sein Zitat bewegte mich gleich. Ich war mir sicher, dass diese Zeilen aus der Feder eines Chirurgen oder Pathologen stammen. "Von wem ist das?", fragte ich den jungen Mann, worauf er grinst: „Gottfried Benn ist der Autor dieser Strophe.“ Markus, so heißt der junge Mann, entdeckte Parallelen zwischen der Biografie Benns und seiner eigenen.

ExpressionismusGottfried Benn, geboren am 2. Mai 1886 in Mansfeld, war Arzt. Nachdem er als Militärarzt tätig war, wechselt er 1912 als Pathologe an ein Berliner Krankenhaus. Sein erster Gedichtband "Morgue", 1912 erschienen, provozierte sein Publikum mit der unübersehbaren Infragestellung der menschlichen Existenz. Benns Verse sind geprägt von der Darstellung der menschlichen Banalität inmitten der großen Leere des Daseins.

Gottfried Benn kam an, er wird heute als DER Vertreter expressionistischer Lyrik gehandelt. Seine Gedichte, die aus einer Liebesbeziehung zu Else Lasker- Schüler, selbst Dichterin, entstanden, führen auf ungewöhnliche Weise in die faszinierende Innenwelt Gottfried Benns ein.

Angestoßen von Markus befasste ich mich mit der Biografie des expressionistischen Dichters. Durch die Wirren der Kriegsjahre hindurch kehrt Benn doch immer wieder zu seinen beiden Berufungen zurück: Er ist und bleibt ein dichtender Mediziner. 1951 erhält er sogar den Georg-Büchner-Preis.

Ich habe Markus geraten, sein Studium zu beenden und wie Benn ein Mediziner zu werden, der dichtet. Vielleicht schreibt er ja irgendwann ähnlich starke Zeilen:

"Ein letzter Tag -: spätglühend, weite Räume,
ein Wasser führt dich zu entrücktem Ziel,
ein hohes Licht umströmt die alten Bäume
und schafft im Schatten sich ein Widerspiel,
von Früchten nichts, aus Ähren keine Krone
und auch nach Ernten hat er nicht gefragt –
er spielt sein Spiel, und fühlt sein Licht und ohne
Erinnern nieder – alles ist gesagt."

Andere Facetten des Expressionismus

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