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Jokers Morgen-Grauen, Teil 12

Vor langer Zeit, genauer gesagt im Jahr 1984, hatte eine Kunst-Lehrerin die Idee, unsere Klasse könnte ein Märchenbuch schreiben und bebildern. Jeder Schüler sollte also zuhause ein Märchen schreiben und dann im Unterricht ein Bild dazu malen.

Gesagt, getan. Am Ende des Schuljahres bekam jeder Schüler ein (noch über Matrizen vervielfältigtes!) Exemplar von „Zauberring und Wunderschwert – Märchen der Klasse 6c“ mit 29 Märchen und Bildern.

Etliche Jahre später, kurz vor dem Abitur, kam ein anderer Lehrer anlässlich einer kleinen Diskussionsrunde auf dieses Märchenbuch zu sprechen. Er habe darin ein Märchen über einen Drachen gelesen, das ihn sehr bewegt habe. Es zeuge von einer so tiefen Einsicht in die Welt und das Dasein, vermittle eine derart besondere Lebensphilosophie, wie es für einen 12-Jährigen ganz und gar ungewöhnlich sei.

Unter den Anwesenden waren einige Schüler, die selbst an dem Märchenbuch beteiligt waren. Sie dachten nun laut darüber nach, von wem dieses bewegende Meisterwerk gestammt haben könnte. Sie kamen nicht drauf, konnten sich auch an den Inhalt des Märchens nicht mehr erinnern. Ich schon. Hier ist es:


„Hirnus Nullus reist in die Zukunft.

Vor langer Zeit, als die Drachen so lebten wie die Menschen heute, und die Menschen so lebten wie die Drachen heute, lebte der Drache Hirnus Nullus.

Er hatte sich gerade ein Modellschiff gebaut. Aber er hatte aus Versehen den Großmast auf das Vordeck gesteckt. Als er ihn herauszudrehen versuchte, fing das Schiff an zu flimmern und schwupp – war er in der Zukunft.

Wie er die dummen Drachen sah erschrak er; denn sie waren von den Menschen verdummt worden. Er richtete eine Schule ein, in der er alle Drachen gescheit machte. Diese gescheiten Drachen eroberten die ganze Welt. Sie ließen nun die Menschen verdummen und machten sie zu ihren Sklaven. Aber ein Mensch verdummte nicht. Der machte die anderen Menschen wieder gescheit. Jetzt wollten die Menschen die Drachen vernichten.

Vorher aber floh Hirnus Nullus mit den Drachen in seine Zeit.

Seitdem gibt es bei uns keine Drachen mehr.“

Zeichnung1
In der oben genannten Diskussionsrunde ging es unter anderem um die Interpretation von Literatur und die Beweggründe von Autoren. Der Lehrer, der sogar schon im Namen „Hirnus Nullus“ ein hintergründiges Wortspiel von weltliterarischer Qualität sah, meinte noch, bei besagtem Märchen hätte er den kreativen Entstehungsprozess vor seinem geistigen Auge ganz deutlich sehen können, einen kleinen Jungen, der vor einem leeren Blatt Papier sitzt und denkt: „Märchen. Leckt’s mich doch alle am … .“

Ich habe ihm damals nicht gesagt, wie recht er hatte.

PS. Die Filme „Das Leben des Brian“ und „Planet der Affen“ waren dem jungen Märchenautor zu jener Zeit völlig unbekannt, auch wenn die Parallelen doch recht verblüffend sind.

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