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Vom Leben, Lieben und Sterben: Uwe Timms Roman „Rot“

Man kann sein Geld auch als Grabredner verdienen – im Grunde ein Beruf wie jeder andere. Man muss dazu kein Grufti sein. Es reicht, sich in die Lebenden und die Toten hineinzuversetzen und ihre Lebensgeschichte mit warmen Worten zu würdigen. Uwe Timms Held in seinem viel gelobten Roman „Rot“ aus dem Jahr 2001 ist so einer: Thomas Linde, Jahrgang 1945, Altachtundsechziger mit junger Freundin und einem Hang zum Jazz. Wenn es gut läuft, veröffentlicht er gelegentlich eine Musik-Kritik. Doch die Butter aufs Brot bringen ihm die Trauerreden.

Thomas Linde also hat einen Beruf, den seine Mitmenschen als etwas bizarr ansehen. Mit dem Tod möchte man nicht so gerne konfrontiert sein. Doch wenn er kommt und einen lieben Angehörigen mitnimmt, ist man froh, wenn es jemanden gibt, der am Grab etwas Tröstendes spricht. Pfarrerinnen und Pfarrer sind prädestiniert dafür. Doch wer kein Kirchenmitglied ist, hat kein Anrecht auf diese Dienstleistung. Da kommt der weltliche Grabredner ins Spiel. Eine schöne Marktnische für Thomas Linde.

Vielleicht hat er nur deswegen eine 20 Jahre jüngere Geliebte, um sich vom Sterben abzusetzen, sich des Lebens zu versichern? Anstrengend ist sie jedenfalls, die Lichtdesignerin Iris, exaltiert und etwas abgehoben. Auf jeden Fall ein krasser Gegensatz zum Protagonisten, der nur allzu gern seinen philosophischen Gedanken nachhängt – er im Bereich des Düsteren, sie im Bereich des Lichts.

Ein Auftrag wirft Thomas Lindes Leben gehörig durcheinander: ein Abgesang auf seinen früheren Freund und Weggefährten Aschenberger. Beide waren sie links und beseelt von der Revolution. Doch während sich Linde mit den Verhältnissen arrangierte, hielt sein Freund an gesellschaftlichen Umsturzplänen fest und plante ein politisches Fanal: Er wollte die Berliner Siegessäule sprengen. Bei Recherchen in der Wohnung des Verstorbenen stößt Linde nicht nur auf detaillierte Pläne zu diesem Anschlag, sondern auch gleich noch auf den Sprengstoff. Er nimmt ihn an sich und hat nun ein Problem: Wie wird er ihn wieder los?

Für Aschenberger war die Siegessäule mit der goldglänzenden römischen Siegesgöttin Viktoria, im Volksmund „Goldelse“ genannt, der Inbegriff des Imperialismus, den es zu bekämpfen galt. Die Säule wurde 1873 im Kaiserreich anlässlich der Siege Preußen über die Dänen, Franzosen und Österreicher errichtet. Für die Nazis stellte das Monument ein zentrales Element in ihrer von Hitlers Chefarchitekten Albert Speer geplanten „Welthauptstadt Germania“ dar. Grund genug also für einen aufrechten Genossen, sie wegzubomben.

Wie Thomas Linde bei seiner Arbeit an der Trauerrede auf einen alten Kumpanen die Vergangenheit Revue passieren lässt, ist lesenswert. Fast beiläufig streift die Geschichte längst Vergangenes aus alten 68er-Kämpfen und setzt es in Verbindung zu Heutigem. 30 Jahre deutsche Geschichte kommen da aufs Tablett. Das sei kraftvolle, vitale und unterhaltsame politische Literatur, meinte die Berliner Zeitung. Ein faszinierendes Buch, das vom Scheitern großer Utopien erzählt, von Revolutionen und Resignation, von Hoffnung und Verzweiflung, von Liebe und Tod. Und ganz nebenbei stellt der Roman auch die Frage nach dem Sinn des Lebens und Sterbens. Doch warum heißt er „Rot“? Weil die Hauptperson nicht nur Grabreden schreibt, sondern auch an einer Arbeit über die Farbe Rot sitz – der erste Farbeindruck, den ein Neugeborenes wahrnimmt und der letze, den man im Sterben sieht.

Dem Hamburger Autor Uwe Timm (geb. 1940) ist mit diesem Werk über ein explosives Geheimnis der ganz große Wurf geglückt. Es ist Chronik einer Epoche, Liebesgeschichte, Kriminalroman und philosophische Abhandlung zugleich und wurde mit zahlreichen Preisen bedacht, u.a. mit dem Tukan-Preis. Mit seiner ganz eigenen Erzählkunst streift er 30 Jahre deutscher Geschichte und verarbeitet dabei selbst Erlebtes. Timm studierte Philosophie, war befreundet mit Benno Ohnesorg und veröffentlichte seine ersten Gedichte in dessen Zeitschrift „teils-teils“. Er war Mitglied im Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) und der DKP, schrieb zeitweise Agitprop-Lyrik und Straßentheaterstücke. 1971/72 gründete er die „Wortgruppe München“ und war Mitherausgeber der „Literarischen Hefte“. Berühmt wurde er mit seinem Roman „Heißer Sommer“ (1974) über die Studentenrevolte. Seine autobiographische Erzählung „Am Beispiel meines Bruders“ (2003) schlug hohe Wellen und löste eine allgemeine Diskussion über die deutsche Erinnerungskultur aus. Timms älterer Bruder hatte sich freiwillig zur SS-Totenkopfdivision gemeldet und starb 1943 in einem ukrainischen Lazarett. Daneben stammen auch vergnügliche Kinderbücher wie „Rennschwein Rudi Rüssel“ aus Timms Feder.

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Weitere Werke des Schriftstellers:

http://www.jokers.de/9/uwe+timm.html?tt=1&ts=1

Autorin: Petra Anne-Marie Kollmannsberger

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