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Gebt Phantàsien eine Chance!

Neulich feierte meine Nichte Geburtstag. Als ich ihr jenes Buch schenkte, das mich, als ich in ihrem Alter war, am meisten beschäftigte, sah sie mich bestürzt an. „Die unendliche Geschichte?“ fragte sie stirnrunzelnd. Das weitere Gespräch ergab, dass sie sich, wenn schon Literarisches, dann lieber etwas über Pferde gewünscht hätte. „Hanni und Nanni“ fiel mir dazu spontan ein. „Wie heißt das Buch?“ wollte sie wissen. Schmerzlich wurde ich mir bewusst, welch Niete ich in Sachen Jung-Mädchenliteratur war. Doch in diesem Fall waren mangelnde Kenntnisse nicht das Problem. Akzeptabel wäre wohl eins der vielen Wochenheftchen rund ums Pferd gewesen, doch wirklich gepunktet hätte ich bei meiner kleinen Nichte erst, wenn mein Präsent ein echtes Pony gewesen wäre. So viel zum Thema Bücher.

Trotzdem nahm ich mein Geschenk nicht zurück, im Gegenteil. Ich schaffte sogar den Sprung zu ihrem geliebten Thema „Pferde“. Ich erzählte ihr, wie sehr mich als Mädchen die Geschichte des kleinen Atrèju bewegt hatte, der auf seinem Pferd „Artax“ quer durch Phantàsien reitet, um ein Heilmittel für die schwerkranke „Kindliche Kaiserin“ zu finden. In Wahrheit war es eher jener Menschenjunge Bastian Balthasar Bux und sein Schicksal in der phantastischen und der realen Welt, das mich in meiner Jugend so gefesselt hatte. Nur die Liebe zum Buch rettet ihn aus seinem grauen und teilweise trostlosen Umfeld.

momoSoll ich ehrlich sein? Daran hat sich bis heute nicht viel geändert. Erst vor wenigen Tagen stieß ich auf ein Zitat, das mich innehalten ließ. „Der magische Bereich des Imaginären ist eben Phantásien, in das man ab und zu reisen muss, um dort sehend zu werden. Dann kann man zurückkehren in die äußere Realität, mit verändertem Bewusstsein, und diese Realität verändern oder sie wenigstens neu sehen und erleben.“ Natürlich stammt das Zitat von Michael Ende. Menschen, die ihm nahe standen, berichten noch heute, dass er sein Leben lang gegen die Bedeutungslosigkeit der Welt antreten wollte. Das Nichts, das Phantásien in der unendlichen Geschichte zu schlucken droht, war als Parabel gedacht für eine ganz reale Bedrohung unserer Gesellschaft. Nur Kunst und Literatur könnten der Welt wieder Sinn geben. So der Glaube von Michael Ende.

jim knopfNatürlich habe ich als Achtjähriger noch nicht so tief geblickt. Mich faszinierten vor allem die endlose Fantasie, die mystischen Figuren, die unergründ- lichen Landschaften, und natürlich die tapferen Helden aus Endes Ge- schichten. Neben der „Unendlichen Geschichte“ zählen „Momo“ und „Jim Knopf“ seitdem zu jenen Büchern, die ich bis heute an die 15 Mal gelesen habe. Und ich bin mit meiner Be- geisterung bei weitem nicht allein. Bis heute haben Endes Werke eine Gesamtauflage von über 20 Millionen verkauften Exemplaren weltweit erreicht. Sie wurden in 45 Sprachen übersetzt und haben spätestens mit den mehr oder weniger gelungenen Verfilmungen Weltruhm erlangt.

All dies beeindruckt meine Nichte natürlich wenig. Deshalb hoffe ich, dass bei ihr wie bei unzähligen andere Kindern zuvor nach wenigen Zeilen der gleiche Effekt wie bei mir eintritt und sie das Buch nicht mehr aus den Händen geben will. Auch wenn sie es nicht aus einem Antiquariat geklaut hat und damit auf den Dachboden ihrer Schule geflohen ist…

Michael Ende bei Jokers

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