Sie wissen ja schon um meine ausgeprägte Lyrik-Affinität. Eine Zeitlang machte ich es mir sogar zur Aufgabe, jeden Monat ein passendes Gedicht nicht nur erneut zu lesen, sondern auswendig zu lernen. Auswendig lerne ich heute meine »Monatsgedichte« zwar nicht mehr, aber dennoch gönne ich mir nach wie vor mein monatliches Gedicht. Im Juni allerdings fällt es mir schwer, mich zwischen zwei Gedichten zu entscheiden. Und deswegen möchte ich Ihnen heute beide vorstellen, von Poeten, die trotz aller Unterschiede in ihrer Liebeserklärung an diesen magischen Monat verbunden sind.
Erich Kästner
Der Juni
Die Zeit geht mit der Zeit: Sie fliegt.
Kaum schrieb man sechs Gedichte,
ist schon ein halbes Jahr herum
und fühlt sich als Geschichte.
Die Kirschen werden reif und rot,
die süßen wie die sauern.
Auf zartes Laub fällt Staub, fällt Staub,
so sehr wir es bedauern.
Aus Gras wird Heu. Aus Obst Kompott.
Aus Herrlichkeit wird Nahrung.
Aus manchem, was das Herz erfuhr,
wird, bestenfalls, Erfahrung.
Es wird und war. Es war und wird.
Aus Kälbern werden Rinder
Und weil’s zur Jahreszeit gehört,
aus Küssen kleine Kinder.
Die Vögel füttern ihre Brut
und singen nur noch selten.
So ist’s bestellt in unsrer Welt,
der besten aller Welten.
Spät tritt der Abend in den Park,
mit Sternen auf der Weste.
Glühwürmchen ziehn mit Lampions
zu einem Gartenfeste.
Dort wird getrunken und gelacht.
In vorgerückter Stunde
tanzt dann der Abend mit der Nacht
die kurze Ehrenrunde.
Am letzten Tische streiten sich
ein Heide und ein Frommer,
ob’s Wunder oder keine gibt.
Und nächstens wird es Sommer.
Max Dauthendey
Leuchtkäfer ziehen durch die Juninacht
Leuchtkäfer ziehen durch die Juninacht
Wie Blicke, die ins Dunkel fliehen,
Ist dort im Abendlaub ein sacht Gefunkel –
Leuchtkäfer ziehen durch die Juninacht.
Ich möchte mich ins Gras hinknien
Still wie ein Schäfer, der die Welt vergisst
Und nur ein Traum bei hellen Blicken ist,
Von denen keiner Dir am Tage lacht;
Die nur in vager Heimlichkeit entstehen
Und über schwüle Abendwiesen gehen,
Von einer heißen Nacht zur Welt gebracht.
Ich hab‘ zu jenen Blicken ein Gesicht erdacht
Von zager Schönheit, dass der Tag nicht wagt
Mehr aufzusehen, und allein die Nacht
Tastend mit sachten Lichtern sucht und fragt.