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Vom Nesthäkchen zum Kiddie, vom Backfisch zum Teenie

Es war einmal in einer längst vergangenen Zeit, da hießen Kids noch Nesthäkchen und Teenies waren Backfische. Die Buben waren frech und entdeckten die Welt, die Mädchen hatten sittsam zu sein und spielten mit Puppen…


Nein, nicht alle, Annemarie Braun ist anders! Die Kleine mit der niedlichen Stupsnase und den blonden Zöpfen fällt aus dem Rahmen. Sie ist für ein Mädchen im Wilhelminischen Kaiserreich ungewöhnlich lebhaft, unordentlich, hasst Handarbeiten und interessiert sich für Biologie und allerlei »Jungs-Spiele«. Else Ury (1877 bis 1943) hat sich die Geschichten über die kleine Annemarie ausgedacht, die als Nesthäkchen einer angesehenen Berliner Arztfamilie um die Jahrhundertwende entsprechend verwöhnt wird.


Generationen von Mädchen liebten die »Nesthäkchen«-Geschichten über die gewitzte Berlinerin, die mit ihrem Charme alle um den Finger wickelt. Angefangen von ihrer Kindheit ("Nesthäkchen und ihre Puppen") über die Erwachsenenzeit ("Nesthäkchens Küken") bis ins Alter ("Nesthäkchen im weißen Haar") verfolgt die zehnteilige Reihe das Leben der Tochter aus gutem Hause. Und so aufmüpfig die kleine Annemarie sich auch gebärdet, ist sie doch ein Kind ihrer Zeit und soll zu einem lieben Mädchen erzogen werden.


Als »höhere Tochter« genießt die kleine Annemarie viele Privilegien. Sie verfügt über schönes Spielzeug, wird von einer treusorgenden Mutter und einem Kindermädchen gehegt und genießt eine gute Schulausbildung. Doch bei allem emanzipatorischen Drang, den sich Nesthäkchen leistet (sie beginnt sogar ein Medizinstudium), am Ende entscheidet es sich doch für Heim und Familie und wird Hausfrau, Mutter und Oma.


Wie Emmy von Rhodens »Trotzkopf«-Geschichten zählt die »Nesthäkchen«-Reihe zu den so genannten Backfisch-Romanen. Diese Erzählungen wurden jungen Mädchen ans Herz gelegt, damit sie sich zu benehmen lernen und sich zu wertvollen Mitgliedern der Gesellschaft entwickeln. Transportiert wird ein überwiegend traditionelles und an bürgerlichen Werten orientiertes Frauenbild. Dennoch: Nesthäkchens Abenteuer machen großen Spaß, auch noch in fortgeschritteneren Jahren, denn sie wirken wie eine Zeitreise ins Deutsche Kaiserreich und die Weimarer Republik. Viel weiter allerdings kommt man nicht, denn Else Ury vollendete ihren Geschichtenzyklus um 1925, wobei sich ihr Nesthäkchen da vom Alter her bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren hätte befinden müssen. Es ergibt sich also beim Lesen der spannende Fall, dass die Handlung die damalige Zeitgeschichte überholt und man sich vom Standpunkt der Entstehungszeit aus betrachtet in der Zukunft befindet.



Nesthaekchen.jpgIn Nesthäkchens Universum gibt es kein Fernsehen, nur Radio, keine modernen Haushaltsgeräte, auch keine Autos als Massenphänomen und natürlich auch keinen Zweiten Weltkrieg. Den Ersten allerdings behandelt Else Ury in epischer Breite und widmet ihm einen eigenen Band: »Nesthäkchen und der Weltkrieg«. Er wird heute aufgrund seiner deutsch-nationalen, kriegsverherrlichenden Tendenzen nicht mehr aufgelegt.


Ein ähnlich angenehmer Lebensabend, wie ihn Nesthäkchen im Kreis der Kinder und Enkel genießen durfte, war seiner Schöpferin nicht vergönnt. Else Ury war Jüdin und wurde von den Nationalsozialisten mit einem Schreibverbot belegt. Schließlich deportierte man sie nach Auschwitz, wo sie 1943 in der Gaskammer starb. Ihre bewegende Biografie »Nesthäkchen kommt ins KZ« hat Marianne Brentzel 1992 geschrieben (heute unter dem Titel »Mir kann doch nichts geschehen – Das Leben der Nesthäkchen-Autorin Else Ury«).


Für alle NostalgikerInnen gibt es bei uns Nesthäkchen zum Lauschen:


"Nesthäkchen und ihre Puppen" als Hörbuch bei Jokers



Geschrieben von Petra Anne-Marie Kollmannsberger

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