Stil und Etikette sind in wie nie zuvor. Der gute alte Knigge verkauft
sich in Neuauflagen für Büro, Heim, Freundeskreis, ja sogar für den
Sport so gut wie nie. Und doch scheint es mir, als hätten die Menschen
in den letzten Jahren die Rücksicht auf andere verloren. Ein Eindruck,
der sich in den letzten Monaten massiv verstärkt hat. Und zwar genau in
der Zeit, in der die Menschen doch so besonders gut und freundlich
hätten zueinander sein sollen: in der Advents- und Weihnachtszeit.
Angefangen mit einer guten Bekannten, die plötzlich mit einem
gebrochenen Bein an ihre Wohnung im 4. Stock gefesselt wurde. Die
Selbständige ist ledig und erzählte mir, dass ihr niemand aus ihrem
großen Freundeskreis zu Hilfe kam. Nicht einmal eingekauft hat jemand
für sie. Es geht weiter mit einer Bekannten, die plötzlich am Unterleib
operiert werden musste – und der genau eine Freundin die Hand hielt.
Der Rest scheute sogar das Telefonat.
Ich könnte noch viele weitere Beispiele aufzählen von Menschen in Not,
denen nicht die Freunde beistanden, die über genug Zeit, Geld und Ruhe
verfügten. Nur Menschen, die selbst wissen, wie hart der Wind des
Lebens bläst, kümmern sich manchmal. Die meisten aber verfolgen die Not
anderer aus sicherer Distanz. Aus irgendeinem Grund, so scheint es mir,
haben sie Angst, das Unglück könnte auch ihnen ihre Gesundheit, ihre
Haus, ihren Job oder ihren Lebenspartner rauben.
So ist es kein Zufall, dass zum Jahresende die Selbstmordrate um ein
Vielfaches den Jahresdurchschnitt übertrifft. Denn all jene, die zu
Weihnachten keine Familie haben, bei der sie bleiben können, haben
plötzlich auch keine Freunde mehr, die ihnen zumindest einmal eine
Weihnachtskarte schicken. Irgendwie traurig.
