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Emil entdeckt den Fluss des Lebens

Hermann HesseWie sehr der eigene Perfektionismus oft zum Verhängnis wird, zeigt mir gerade wieder Emil. Seit ein paar Jahren beschäftigt sich mein Freund intensiv mit fernöstlichen Meditationsarten. Dabei versucht er sich aktiv in Tai Chi Chuan, dem chinesischen „Schattenboxen“. Doch je mehr er sich bemüht, umso verzweifelter wird er. „Ich entdecke ständig wieder eine neue Bewegung, die ich nicht kann und auch nicht verstehe. Und am Ende habe ich das Gefühl, überhaupt nichts verstanden zu haben.“ Als Laie auf dem Gebiet meditativer Lehren weiß ich mir wieder einmal nur mit Literatur zu helfen. So empfahl ich den Klassiker, Hermann Hesses „Siddharta“.

Das Buch erzählt vom jungen Brahmanen Siddhartha und seinem Freund Govinda. Beide begeben sich auf die Suche nach dem Atman, dem All-Einen, der obersten Erkenntnis, die in jedem Menschen ruht. Dabei führt der Lebensweg Siddharta vom Asketen und Bettler über den Kaufmann, den Fährmann, den Vater bis hin zum Erleuchteten. Immer wieder begegnet der Suchende dabei einem Fluss. Allmählich beginnt er, vom Rauschen des Flusses zu lernen, der sich im ständigen Wandel befindet und doch immer der Gleiche bleibt.

So wenig ich tatsächlich von fernöstlichen Lehren verstehe, so viel hat mich doch diese Erzählung gelehrt. Wie schon in „Narziss und Goldmund“ zeigt Hesse darin, dass Leben Bewegung und Entwicklung bedeutet. Die endgültige Erleuchtung gibt es, wenn überhaupt, erst nach lebenslangem Streben. Emil selbst hat nach eigenen Angaben „Siddharta“ auf einen Rutsch durchgelesen und übt wieder fleißig Tai Chi Chuan. „Jetzt gewöhne ich mir das Denken einfach ab“, erzählte er mir heute. „Stattdessen folge ich einfach dem Fluss des Lebens und übe weiter.“

(Geschrieben von Matthias Stöbener)  

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