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Schillernde Feiern, schillernde Reden

Am 9. Mai vor 200 Jahren starb Schiller, einer der ganz Großen in der deutschen Literaturgeschichte. Grund ihn zu feiern! Eine Schillerfeier reiht sich an die andere. Der geneigte Freund der Literatur wirbelt ganz schön im Land herum, wenn er jede wichtige Würdigung durch seine eigene Anwesenheit beehren will.

Für alle, die nicht die Zeit, die Lust oder das Geld haben, wenigstens ein paar der Schiller-Feiern in diesem Jahr zu besuchen, empfehle ich die Lektüre des folgenden Festvortrags von Prof. Dr. Immanuel Tiefbohrer anlässlich einer früheren Feier des Todestags von Schiller, den Hanns von Gumpenberg aufgezeichnet hat. In unübertroffener Weise kommt hier auch heute noch zum Ausdruck, was Schiller uns bedeutet. Wunderbar auch die Weise, wie Schiller von Prof. Dr. Immanuel Tiefbohrer in Beziehung zu dem Wirken des anderen herausragenden deutschen Dichters gesetzt wird, dessen Namen der Normalsterbliche nur mit äußerster Ehrfurcht auszusprechen wagt: Goethe. Aber ich will nicht länger langweilen, hier der Festvortrag:

Hanns von Gumpenberg

Goethes "Weder-Weder" und Schillers "Noch-Noch"

Zwei Weimarer Festvorträge

von Professor Dr. Immanuel Tiefbohrer

Vorwort

Nachstehende in Weimar gehaltene Gedächtnisreden, die erst nur ihrem besonderen Zwecke dienen sollten, haben bei dem erlesenen Auditorium ein so ungewöhnliches Interesse gefunden, daß ich dem Drängen mehrerer Fachgenossen nachgebe und sie hiermit auch der weiteren Öffentlichkeit zugänglich mache. Es mag dies auch insoferne nicht unberechtigt erscheinen, als die eine der beiden aufschlussreichen Textstellen bisher noch nicht in ihrer ganzen schwerwiegenden Bewertung gewürdigt, die andere aber seltsamerweise überhaupt noch jeder wissenschaftlichen Beachtung entgangen war.

Weimar, im Wonnemond 19…

Dr. Immanuel Tiefbohrer

II.

Schiller-Gedächtnisrede,

gehalten am 9. Mai.

Hochgeehrte Versammlung!

Als ich im März die Auszeichnung hatte, Ihnen Goethes "weder – weder" in seiner ganzen Bedeutsamkeit und in der Fülle seiner ästhetischen Begründungen darzulegen, ahnte ich nicht, daß mir mit fast beschämender Einstimmigkeit auch die Rede für den heutigen Gedächtnistag unseres herrlichen Friedrich Schiller anvertraut werden sollte.

Noch weniger aber ahnte ich, daß sich mir für diesen meinen zweiten Versuch, einem Großen gerecht zu werden, völlig unverhofft, ja wie durch höhere Fügung ein Gegenstand bot, der die Aufeinanderfolge dieser beiden Vorträge noch in weit höherem Maße rechtfertigen kann, als es die mich so tief bewegende Wertschätzung meiner bescheidenen Kräfte an sich vermöchte. Denn dieser Gegenstand schließt sich nicht nur aufs innigste an das Thema meiner Ausführungen am verflossenen Goethe Gedächtnistage an, er bedeutet auch geradezu eine notwendige Ergänzung zu dem damals Gesagten, und zwar im Sinne jener geheimnisvollen inneren Gewißheit, die uns die geliebten Dichter Dioskuren gar nicht anders vorstellen läßt als wie unser heimisches Denkmal sie zeigt: verschiedenen, ja gegensätzlichen Wesens, aber Schulter an Schulter in Ebenbürtigkeit vereint! Es war vor fünf Wochen, am ersten April nachmittags nach 4 Uhr – ich stelle den Zeitpunkt mit möglichster Genauigkeit fest, weil ich die Entdeckung, von der sogleich die Rede sein soll, historisch für mich in Anspruch nehmen muß -, es war also am 1. April, 4 Uhr 15 Minuten nachmittags, da durchblätterte ich in Überlegung eines geeigneten Themas für die heutige Gedächtnisrede auch den zweiten Akt von Schillers glutvollem Jugenddrama "Don Carlos". Und da wurde mein Auge plötzlich auf eine Dialogstelle jenes zehnten Auftritts zwischen Domingo und Alba gelenkt, die ominöser Weise beginnt:

"DOMINGO

Was wollen Sie mir sagen?

ALBA

Eine wicht’ge

Entdeckung, die ich heut‘ gemacht…"

als ob der große Dichter hier schon prophetisch auf die Entdeckung hätte hinweisen wollen, die mich selbst in jener gesegneten Stunde beglücken sollte! Auf die Frage Albas, wer es auf sich zu nehmen habe, den König über die erotische Relation zwischen seiner Gemahlin und dem Infanten aufzuklären, läßt Schiller nämlich den Domingo erwidern: "Noch Sie, noch ich"–!

Ich sehe, meine Damen und Herren: die Wucht dieser Enthüllung übt auf Sie zunächst ganz dieselbe fast schreckhaft lähmende Wirkung aus wie auf mich in jenem geschichtlichen Augenblick. Aber wie es mir geschah, sobald ich imstande war, mir über die außerordentliche Erscheinung klarer zu werden, so werden auch Sie, meine verehrten Damen und Herren, an der Hand meiner Erläuterungen alles erschreckend Befremdliche von diesem Phänomen abfallen sehen, Sie werden überzeugt werden, daß es sich nicht etwa um einen Widerspruch gegen die Feststellungen meiner letzten Goethe-Gedächtnisrede handelt, sondern daß uns vielmehr in dieser Schillerschen Textstelle und ihrer geheimnisreichen Beziehung zu dem "weder – weder" Goethes eine unerhörte Offenbarung über unser eures Dichterheroenpaar geschenkt ist: und auch Sie werden sich in freudiger Ergriffenheit sagen, daß etwas, was ich philologische Vorsehung nennen muß, dieses Gnadengeschenk nur einem Weimarer Forscher anvertrauen konnte, damit es, wie allein recht und billig, von unserer geliebten Klassikerstadt aus seine segensreichen Wirkungen verbreite!

Meine verehrten Damen und Herren! Schon zu jener Zeit, da die beiden Dichterfürsten noch auf diesem durch sie geweihten Boden wandelten, Goethe mit dem breiten Tritt ruhvollen Behagens, Schiller aber in einer Gehweise, die ihn bei aller Energie des Auftretens immer auch elastisch, gleichsam auf Schwingen des Ideals halb zu den Sternen emporhob schon zu jener begnadeten Zeit, sage ich, litt die Welt unter der bangen Unentschiedenheit des Streites, welcher von den beiden Dichtern der größere sei. Welch hohe Bedeutung auch Goethe dieser Frage beimaß, erhellt aus der bekannten Tatsache, daß er Eckermann gegenüber ausführlich darauf zu sprechen kam; aus seiner ausweichenden Bemerkung aber, die Nation möge den Streit nicht weiter verfolgen und sich nur freuen, "zwei solche Kerle zu besitzen", spricht vernehmbar der quälende Schmerz, daß das Problem nicht zu lösen sei: und die Folgezeit schien dieser Resignation auch durchaus recht zu geben. Heute aber, meine Damen und Herren, wissen wir auf Grund jener parallelen Textstellen, die bei Goethe wie auch bei Schiller die größte dichterische Kraft in einem kleinsten und feinsten Punkte gesammelt zeigen, dass keiner dem andern etwas nachgab!! Schon in meiner Goethe Gedächtnisrede habe ich mit gebührendem Nachdruck darauf hingewiesen, wie Gretchens "weder – weder" den Dichter in jener totalen Unabhängigkeit von der profanen Grammatik zeigt, die das sicherste Symptom des überragenden und beherrschenden Genius ist; nun denn: Domingos "noch – noch" zeigt auch Schiller im Besitze dieser überragenden und beherrschenden Genialität, und zwar, als hätte die Vorsehung uns diese Einsicht ganz besonders erleichtern wollen, an genau demselben sprachlichen Beispiel! Hinter Goethe wie hinter Schiller lag hier das Gemeine in wesenlosem Scheine, und zwar hinter jedem gleich weit! Auch der Verdacht, daß Goethe durch die Schillersche Textstelle, oder Schiller durch die Goethesche erst zu einem bezüglichen Wetteifer entflammt worden wäre, auch dieser schon an sich unwürdige Verdacht läßt sich literarhistorisch sofort entkräften, findet sich doch das "weder – weder" Goethes bereits im Urfaust, den Schiller noch nicht kannte, als er im Jahre 1783 mit fester Hand sein "noch – noch" in den "Don Carlos" setzte. Nein: völlig unabhängig von einander bewährten die beiden Großen an demselben Gegenstand dieselbe freie Meisterschaft!

Aber – und dies führt in die tiefsten Mysterien des individuellen Schaffens – aber jeder von den beiden Heroen bewährte sie in seiner besonderen Weise, in der Form, die allein seiner künstlerischen Persönlichkeit und der ihr vorliegenden dichterischen Aufgabe entsprach. Wir haben seinerzeit gesehen, aus welchen zwingenden Gründen Goethe das "weder – weder" auch dem "noch – noch", das sicher auch durch seine Seele ging, vorziehen mußte: und heute, meine verehrten Damen und Herren, werden wir sehen, aus welchen nicht minder zwingenden Gründen Schiller seinerseits gar nicht anders schreiben konnte als "noch – noch"!

Da ist denn vor allem hinzuweisen auf Wesen und Richtung der Schillerschen Produktion im allgemeinen. Während Goethes beschaulich umfassende Universalität das Dramatische nur mit einschloß als eine dichterische Ausdrucksform neben vielen anderen, deren er sich bediente, war Schiller, wie wir ja alle wissen, in erster Instanz Dramatik er. Zu den entscheidendsten Erfordernissen der dramatischen Kunst zählt aber die möglichste Knappheit des sprachlichen Ausdrucks. Als sich auch für Schiller in jenem Augenblicke der Produktion intuitiv die allgemeine Notwendigkeit ergab, die Fesseln der Vulgärgrammatik zu sprengen, mußte er daher sofort auch die zweite Notwendigkeit fühlen, den Sprachgebrauch nach Seite der konzisen Zusammendrängung zu verbessern.

Schon aus diesem Grunde kam für ihn nur mehr das "noch" in Betracht, nicht aber das breiter ausladende "weder". Dabei konnte sich ihm nicht wie Goethe das ernste Bedenken entgegenstellen, mit dem zweisilbigen "weder" auch den Wetteifer mit den altklassischen Vorbildern "neque" und […] zu verabsäumen; wissen wir doch heute, daß die Klassizität Schillers im Grunde weit mehr auf dem starken Einflusse der Klassiker des französischen Dramas, namentlich auf dem Einflusse Racine’s beruhte. Die französische Sprache aber gibt in dem fraglichen grammatikalischen Falle nur ein ebenso einsilbiges "ni – ni" von sich, das obendrein mit dem "noch – noch" den Konsonanten "n" gemeinsam hat: so daß also Schiller durch sein klassisches Vorbild in der Entscheidung für das "noch – noch" nur bestärkt werden konnte.

Sieht man aber genauer zu, so geboten Schiller auch noch andere, künstlerisch-speziellere Gründe mit aller Entschiedenheit die Wahl des "noch – noch". Vergegenwärtigen Sie sich zu diesem Behufe den betreffenden Auftritt des Carlos-Dramas. Der finstere Alba und der schwarze Domingo stehen beisammen, mächtiges Unheil brütend. Dieser tiefdüsteren Färbung des Auftritts mußten auch die Laute der ersten, knappen Worte von Domingos Antwort auf Albas Frage möglichst entsprechen, und zwar vor allem in ihren Vokalen. Diese Vokale mußten also möglichst dunkel sein, um so mehr, als der helle I-Laut in "Sie" und "ich" nicht zu vermeiden war: die gleichfalls sehr hellen Vokale des "weder – weder" hätten die ganze Stimmung der Szene vernichtet, und auch das profan korrekte "weder Sie, – noch ich" hätte da so gut wie nichts gebessert, weil es gerade am Beginne der Antwort gleich drei der hellsten Vokale gebracht hätte, gegen deren Lichtfülle das vereinzelt nachhinkende dunkle "noch" gar nicht mehr erfolgreich hätte ankämpfen können. Als einzig künstlerische Möglichkeit blieb daher unserem Schiller nur mehr das "noch – noch" übrig, das obendrein den unschätzbaren Vorteil bot, Domingos Antwort gleich mit dem tiefdunklen O-Vokal zu beginnen und hiermit die charakteristisch düstere Wirkung des Auftritts suggestiv zu erzwingen. Dabei ist auch sehr zu beachten, daß die Vokalfolge "o – o" in "noch – noch" zugleich der nämlichen Wiederholung des O-Vokals in dem dumpf dröhnenden Namen "Domingo" völlig entsprach, so daß "noch – noch" auch zugleich die Nachtgestalt von Philipps furchtbarem Beichtvater sozusagen in einem intensiv tonmalerischen Symbol wiedergibt; ferner, daß sich in diese Vokalfolge "o-o", die ja rein klanglich auch als "oh, oh" gedeutet werden kann, zugleich auch die ganze ethische Mißbilligung des Dichters selbst flüchten und suggestiv dem Publikum sich mitteilen konnte! Aber auch die Konsonanten des "noch – noch" waren hier geeignet, der höchsten künstlerischen Vergegenwärtigung zu dienen. Der lichtscheue schleichende Mönch, der in feuchtkalt-finsteren Kloster-, Kapellen- und Grufträumen aufgewachsen ist, konnte sich sicher keiner intakten Atmungsorgane und Stimmbänder erfreuen, ein chronischer Rachen- und Kehlkopfkatarrh war bei ihm mit aller Bestimmtheit anzunehmen, und dieser Rachen- und Kehlkopfkatarrh bedingte eine heiser keuchende Sprechweise. Wie aber hätte dieses heisere Keuchen Domingos dem Schauspieler näher gelegt werden können, wie auf zuverlässigere Art von ihm erzwungen werden als durch Schillers wundervolles "noch – noch", das den rauh keuchenden und fauchenden Rachenlaut "ch" zweimal kurz hintereinander bringt und durch das dritte "ch" des unmittelbar darauf folgenden Wortes "ich" sogar noch gewaltig verstärkt wird? Aber die eminente persönlichkeitmalende Kraft des "noch – noch" ist damit noch nicht erschöpft; auch in seiner vokalisch-konsonantischen Gesamtheit diente es diesem Zweck, und zwar in bezug auf die allgemeinere Körperbeschaffenheit Domingos. Daß der intrigante, von Fanatismus und Streberei verzehrte Mönch sich einer behäbigen Wohlbeleibtheit erfreut haben könnte, muß ausgeschlossen erscheinen; man kann sich seine Gestalt nur in dürrknochiger Hagerkeit vorstellen. Und nun, meine verehrten Damen und Herren, lassen Sie an Ihre akustische Einbildungskraft noch einmal die Schallwellen des "noch – noch" schlagen! Deutlich werden Sie jetzt auch heraushören: "Knochen – Knochen!" Ja, meine Damen und Herren, – auch die dürren Knochen Domingos hört man klappern in diesem unerhört plastischen, malerischen, musikalischen, die Situation wie die Persönlichkeit erschöpfend schildernde n "noch – noch"!

Was vor allem, hochverehrte Versammlung, macht den großen Dramatiker? Äußerste Knappheit und Schlagkraft des Ausdrucks, restlos eindringliche Zeichnung der vorgeführten Gestalten! Beides bewährte, wie wir sahen, unser Schiller mit seinem "noch – noch"; immanente Notwendigkeit nötigte ihn zu der Neubildung, genau dieselbe immanente Notwendigkeit des Genius, die Goethe aus ganz anderen Gründen zur Erschaffung des "weder – weder" zwang! Die Verschiedenheit des künstlerischen Zwecks forderte die Verschiedenheit der Form: aber Vollkommenheit, Erfüllung sämtlicher Gebote der Kunst bewundern wir hier wie dort. Meine verehrten Damen und Herren! Beseligt durch diese Erkenntnisse lassen Sie uns jetzt im Geiste noch einmal andachtsvoll vor das gemeinsame Bild der Dioskuren, vor unser geliebtes heimisches Denkmal treten! Da sehen wir den einen und einzigen Lorbeerkranz von beiden erfaßt: und wir erkennen in diesem Lorbeer die ruhmreiche Verwandlung des vulgären "weder – noch" in eine Form von reinster und freiester künstlerischer Bedeutung. Aber wir sehen auch, wie Goethes Hand in ihrer ganzen Breite auf dem Kranze ruht, während Schiller ihn nur mit halber Hand berührt: und es ist uns, als sähen wir in dieser Differenzierung schon Goethes breites, vierfüßiges "weder – weder" und Schillers dramatisch knappes, zweifüßiges "noch – noch" zum Ausdruck gebracht, wie durch vorahnende Eingebung des großen Bildhauers.

Staunende Ehrfurcht lässt uns verstummen; in unseren Herzen aber klingt der Jubelruf: Weder noch Goethe, noch weder Schiller – nein, so wohl als auch Schiller, als auch sowohl Goethe ist unser Größter!

Übrigens: Es schillert auch bei Jokers!

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