Liebe in Zeiten des Hip-Hop

      1 Kommentar zu Liebe in Zeiten des Hip-Hop
Siegfried LenzNeulich erzählte mir eine Freundin von ihrer achtjährigen Nichte. Die Grund- schülerin habe sich bei ihr beklagt, dass es für Kinder keine Stöckelschuhe gibt. Außerdem fände sie in ihrer Größe nur schwer String-Tangas. Wie bitte? Habe ich recht gehört?

Ich war sprachlos. Und doch war diese kleine Episode nur ein weiteres Beispiel für ein Phänomen, das schon längst bekannt und daher immer weniger beklagt wird: die Verrohung auf sinnlichem Gebiet. Wenn, bestärkt durch Hip-Hop-Texte und Musik–Videos, bei Jugendlichen nicht mehr das Gefühl der Liebe, sondern nur noch der Akt im Vordergrund steht. Wenn mit 14 Jahren Stellungen wichtiger sind als Herzklopfen oder Schmetterlinge im Bauch. Wenn sich schon 12-jährige nach cooler Rapper-Manier in der schlimmsten sexistischen Gossensprache auf offener Straße begrüßen. Dann läuft doch irgendetwas falsch. Jedenfalls sehe ich das so.

Ausgerechnet Siegfried Lenz, der das Thema Liebe in seiner 57-jährigen Karriere gemieden hat, schreibt in seiner neuesten Novelle „Schweigeminute“ über die Liebe. Und das in so wohltuender Art und Weise, dass sich die Lektüre seines Werks für mich anfühlt wie frisches Quellwasser.

Lenz erzählt zwar auch von der körperlichen Liebe zwischen dem Gymnasiasten Christian und seiner noch jungen Sportlehrerin Stella. Die beiden kommen sich in den Sommerferien im fiktiven Seebad Scharmünde näher. Doch der Ich-Erzähler bleibt, wie ein echter Gentleman, diskret und hält sich mit drastischen Einzelheiten zurück. „Ich streifte ihren Badeanzug ab, und sie ließ es geschehen, sie half mir dabei, und wir liebten uns dort in der Mulde bei den Kiefern.“ Detaillierter wird es nicht.

Ein wunderschönes ruhiges Werk über die Liebe, geschrieben von einem altersweisen Autor einer gerade aussterbenden Generation.

Lenz bei Jokers

(geschrieben von Matthias Stöbener)

1 thought on “Liebe in Zeiten des Hip-Hop

  1. AK

    Lieber Matthias,

    die Formulierung „die Verrohung auf sinnlichem Gebiet“ trifft den momentanen Zustand einer immer breiteren Menge von Jugendlichen leider recht genau.

    Hatten wir seinerzeit (obwohl das nun auch noch nicht sooooo lange her ist) nahezu mehr aufgeregtes Herzklopfen als vorfreudige Coolness vor dem ersten ernsthaften Treff mit der Angebeteten, so scheint es vielen heutigen (Gerade-Einmal-)Jugendlichen mehr Kopfschmerzen zu bereiten, ob ihr Video vom Intimtreff auch wirklich gut genug ist, um auf den Videoplattformen angeklickt zu werden.

    Dies mag auf den ersten Blick übertrieben klingen und vielleicht doch nicht für die Masse zutreffen, kommt aber tatsächlich und immer häufiger vor.

    Und es soll nur ein kleines Beispiel zur Untermalung deiner Verrohungs-These sein. Weitere Auswüchse geistern letztlich zur Genüge durch den Blätterwald.

    Muss man sich Gedanken machen, wenn der Nachwuchs in nicht ferner Zeit das Ruder übernimmt?

    Und muss man sich Gedanken machen, wenn ein Buch über „feuchte Gebiete“ die Bestsellerlisten und die Autorin die TV-Studios stürmt?

    Wie wohl tut es dann, wenn man die kleinen Inseln entdeckt. Inseln fern ab von Paukenschlägen unter die Gürtellinien der LeserInnen. Möge der Einkauf von Jokers auch in Zukunft sein so glückliches Händchen behalten.

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