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Rilke sei Dank

Am Wochenende gab ein Freund die Einweihungsfeier seiner neuen Wohnung: Stolz führte er uns Gäste durch das schmucke Einfami- lienhaus, sogar ein Kinderzimmer für die zukünftigen Nachkommen ist mit dabei. Ich war ein wenig verblüfft: Stellte doch dieser Freund immer Sinn und Zweck von Besitztümern mehr als in Frage!

Doch auf mein Drängen hin, mir den Grund für seine plötzliche Sess- haftigkeit zu verraten, konterte der ehemalige Weltenbummler mit einer Strophe aus einem meiner Lieblingsgedichte:

"Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben."

RilkeEr weiß nur zu gut, dass ich, wenn ich einen Vers von Rainer Maria Rilke höre, keine weiteren Fragen mehr stelle – so auch dieses Mal nicht. Was gäbe es denn noch zu bezweifeln, noch zu hinterfragen, wenn man sich diesen gewaltigen Worten gegenübersieht? Diese Zeilen drücken alles aus, was so manchem von uns, besonders jetzt zum Beginn des Herbstes durch den Sinn geht: Es ist die Zeit gekommen, zur Ruhe zu finden. Es ist die Zeit ge- kommen, durchzuatmen, vergangene Umtriebigkeit hinter sich zu lassen, sich zurück zu lehnen. Die Seele Frieden finden zu lassen, vielleicht mit dem geliebten Partner ins Heim zurück- kehren und die Welt da draußen einfach sein zu lassen.

Ja, ich verstehe meinen Freund, den stolzen Besitzer des neuen Eigenheims. Rilke sei Dank.

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