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Die Frau am Brunnen der Weisheit

Die Sonne schien vom Himmel, als ich neulich an einem frühen Vormittag ein dickes Kuvert zum Theater brachte.

Es schien endlich Sommer zu werden. Ich lief durch Gässchen und Gassen von Augsburg.

Am Ende einer gepflasterten Gasse sah ich einen Brunnen plätschern. Das Wasser sprudelte aus einer

steinernen Säule in ein kleines Becken, das mit einem Gitter abgedeckt war. Auf dem Gitter stand ein

durchsichtiger Plastikeimer, in den der Wasserstrahl hineinsprudelte. „Nanu", dachte ich mir,

„wer holt hier Wasser?" Am Brunnenbecken war ein Schild zu lesen, auf dem das Wort „Trinkwasser" stand.

Ein paar Meter von dem Brunnen entfernt sah ich in der milden Vormittagssonne eine Frau stehen. Nach der Kleidung

zu urteilen eine türkische Frau. Sie stand ganz ruhig da und wartete geduldig darauf, dass der Wasserstrahl ihren

Eimer füllte. Ihre Haltung hatte etwas Meditatives. Sie genoss wie ich die wärmenden Sonnenstrahlen.

Während ich weiter ging, überlegte ich mir, weshalb die Frau das tat. Hatte sie zu Hause keinen Wasserhahn? Bei uns

hat doch jede Wohnung einen Wasserhahn. Oder versetzte sich diese Frau in ihre Heimat zurück, wo sie vielleicht

als Kind das Wasser für Mutters Küche holen musste? Von einem Brunnen, der einige Kilometer vom elterlichen Haus

entfernt war? Jedenfalls strahlte diese Frau für mich eine orientalische Ruhe aus. Sie hat wohl kein Coaching

nötig, bei dem wir lernen die Zeit zu vergessen, unser Leben ohne Uhr zu genießen, unsere Hektik hinter uns

zu lassen.

zeit.jpgNachdem ich das Kuvert in den Theater-Briefkasten gesteckt hatte, fragte mich mein Hirn schon wieder, was mein nächster Tagespunkt zum Abarbeiten war. Ich dachte an die Frau, deren Wassereimer vielleicht schon voll war, den sie langsam nach Hause trug. Dabei verlangsamte ich meinen Schritt und überlegte mir, wo ich das nächste Straßencafé finden konnte, um mein Leben im Sitzen mit einem Espresso zu genießen. Dort traf ich meinen Anwalt. Er blinzelte wie ich in die Sonne. Irgendwie wurde ich unruhig. Mein Hinterkopf meldete wichtige Termine. „Wie spät ist es?", wollte ich von ihm wissen. Er streckte mir seine rechte uhrlose Hand entgegen. „Keine Ahnung. Seit sich bei einem Unfall das Armband tief und schmerzend in meine Hand grub, trage ich keine mehr. Ich habe inzwischen ein gutes Zeitgefühl."

Sowas! Ich war verdutzt. Die Sonne blendete mich. Ich trank einen Schluck Leitungswasser, das mir die Bedienung neben meinen Espresso gestellt hatte. Es schien direkt aus der Quelle im Paradies, dem Jungbrunnen zu kommen. Ich fühlte mich plötzlich ein paar Jahre jünger und viel freier. Ohne Termine, ohne Kreditraten, ohne Fixkosten, ohne Versicherungen und ohne Verpflichtungen.

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