Suche
Close this search box.

Gegen die Wand gelesen

Lesen im BiergartenEin Geständnis: Ich bin letzten Samstag sehr unangenehm auf- gefallen. Und zwar mit einem Buch. Nicht, dass der Titel oder der Inhalt anstößig gewesen wäre – nein. Einfach nur die Tatsache, dass ich ruhig da saß und las, sorgte für ungläubiges Staunen um mich herum. Sätze wie: „Wie kann der ausgerechnet hier lesen!?“, „Spinnt der?“ umflogen mich wie Speere. Derweil ist dieser Ort, an dem ich gelesen habe, für Bücherliebhaber beson- ders im Sommer durchaus ge- läufig und stark frequentiert. Nur eben nicht jetzt.

Tatort: der Biergarten meiner Lieblingsgaststätte. Nur zwei Details machten den großen Unterschied zu sonstigen Sommernachmittagen: Die Großbildleinwand und (natürlich!) die Fußball-WM. In dem lauschigen und gemütlichen Lokal werden nämlich täglich die wichtigsten Spiele live übertragen – es ergibt sich eine Kombination, die derzeit magische Anziehung besitzt, auch auf die größten Fußball-Muffel: Bier, Freiluft, Fußball, Menschenmengen.

Lesen im BiergartenSo kam es dann auch, dass es mich bereits zwei Stunden vor dem Anpfiff zum entscheidenden Spiel Deutschland – Schweden, in die besagte Lokalität trieb. Um rechtzeitig noch Plätze zu ergattern, für mich und meinen Kumpel. Und was mache ich normalerweise allein wartend in einem Biergarten? Ich lese. So auch dieses Mal. Inmitten all des Trubels, der hin- und herge- stemmten Bierkrüge, der von allen Seiten wehenden Fahnen, der lautstarken Tröten und Gesänge, versuchte ich mich auf Marlen Haushofers „Die Wand“ zu konzentrieren. Nicht, um aufzu- fallen, provozieren wollte ich auch nicht, erst recht niemanden beleidigen. Ich hatte nur schlicht (noch) kein Interesse an dem Geschehen auf der Leinwand. Gehen konnte ich auch nicht einfach, ich musste ja Plätze frei halten.

Allerdings gab ich meine militante Lesehaltung bald auf, zu groß war das Getöse, zu entsetzt die Reaktionen meiner Tischnachbarn. Ich war hoch erfreut, als mein Freund früher als gedacht erschien und eine Radler-Maß vor mich auf den Tisch stellte. Wie weggewischt war plötzlich der sorgenvolle Gesichtsausdruck der anderen, und ich gehörte wieder zu den Menschen. Mit einem leisen, aber resignierten Seufzer ließ ich schließlich mein Buch unauffällig wieder in meiner Tasche verschwinden – gegen eine Großbildleinwand hat nicht einmal Marlen Haushofer eine Chance…

Diesen Beitrag teilen:

Ähnliche Beiträge