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Geschmackssache

Vor einiger Zeit besuchte ich meine Schwägerin. In ihrem Buchregal stand auch ihr derzeitiges Lieblingsbuch „Der Schatten des Windes“. Mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse sagte ich: „Das muss ich auch mal lesen.“ Prompt lieh sie mir das Werk von Carlos Ruiz Zafón aus und wartete seitdem auf meine Meinung zu dem Buch.

Natürlich habe ich das Buch bald aufgeschlagen und mich abends im Bett rein gelesen. Auch am nächsten und übernächsten Abend. Ich bin bis Seite 121 gekommen, doch dann legte ich es weg. Nun sind 5 Monate vergangen und es liegt noch immer am gleichen Platz. Die 562 Seiten sind mir im Moment zu mächtig. Die Spannung, die sich laut Werbetext „schon mit der ersten Seite“ einstellt, lässt bei mir auf sich warten. Die Handlung, die meine Schwägerin so berührte, lässt mich völlig kalt. Kurz, das Buch packt mich einfach nicht. Und um mich durch die restlichen 440 Seiten zu quälen, fehlt mir die Motivation.

Doch wie soll ich ihr das sagen? Mit welchen Worten gibt man ein geliehenes Buch zurück, das dem Verleiher am Herzen liegt, einen selbst aber völlig kalt lässt? Nach zwei quälenden Familientreffen, in denen sie wissen wollte, wie mir das Buch gefällt und ich mich wand, entschied ich mich für Ehrlichkeit.

Beim nächsten Treffen erklärte ich, dass mir die sprachliche Schönheit besonders gefallen hatte, ich aber mit dem Inhalt nicht sehr viel anfangen konnte. Trotz gut gemeinter Aufrichtigkeit verübelte sie mir mein Urteil. Das war wohl das letzte Mal, dass mir meine Schwägerin ein Buch geliehen hat. Um ehrlich zu sein, bin ich froh. Denn Literatur ist Geschmackssache.

(geschrieben von Matthias Stöbener)

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