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Melancholisch

Träge wandert mein Blick zum Fenster, streift die kahlen Kastanienäste. Wo ist die Sonne hin? Grau und diesig legt sich der Winter auf den Rasen vor meinem Balkon, die Kirchenglocken füllen mit ihrem schweren Klang die bleierne Luft. Seufzend blicke ich auf den Stoß der unfertigen Weihnachtspost vor mir, nehme endlich den abgekauten Stift aus dem Mund. Ich schlendere in die Küche, gönne mir eine kleine Auszeit für eine Tasse Tee, lasse meine Gedanken schweifen. Nachher muss ich noch einkaufen gehen, mich ins Getümmel der Vorweihnachtszeit stürzen: Geplagte Mütter mit ihren Kleinkindern schleppen Plastiktüten, hier und da platzt eine, und der bunte Inhalt purzelt auf den Straßenmatsch. Rosige Barbiepuppen und zerbrochene Parfüm-Flakons unter schmutzigen Winterstiefeln. Entnervte Schüler und Studenten, die zwischen den Schulstunden schnell ein paar Geschenke besorgen, kicken gegen einen vergessenen Kinderball. Gestresste Geschäftsleute irren hilflos durch die Geschäfte, wohl wissend, dass sie auch dieses Fest mit ihren Küchenhelfern-Geschenken keine wahre Freude bereiten werden: An jeder überfüllten Straßenecke bleiben sie stehen, zünden sich eine neue Zigarette an. Kann sich im Rauch des Tabaks auch dieses Gefühl des Unmuts auflösen?

Heilige Adventszeit, was ist mit dir geschehen?

Doch plötzlich bleibt mein gedankenverlorener Blick hängen: Die Nachbarn haben bereits ihre Fenster geschmückt, fröhlich blinken Lichterketten zu mir herüber, grüne Tannenzweige lächeln mir aus dem Nebel zu. Betörend weht der Duft der frisch gebackenen Lebkuchen aus der Wohnung nebenan herüber, und auf einmal zwitschern die daheim gebliebenen Vögel wieder.

"Weißt du, ich will mich schleichen
leise aus lautem Kreis,
wenn ich erst die bleichen
Sterne über den Eichen
blühen weiß.

Wege will ich erkiesen,
die selten wer betritt
in blassen Abendwiesen –
und keinen Traum, als diesen:
Du gehst mit."

kommt mir da in den Sinn… Oh wunderbarer Rilke! Wie so oft spricht er mir aus der verzagenden Seele! Der Dezember ist sein Monat: Nicht nur, weil Rainer Maria Rilke im Dezember 1875 das Licht erblickte (genauer am 04.12.1875) und im Dezember 1926 (am 29.12.1926) starb. Vor allem deswegen, weil der weltbedeutende Literat wie kein anderer die Melancholie dieses ewigen Wintermonats in Worte einzufangen vermochte: Wie zarte Spinnenweben spielt seine Poesie mit dem Dualismus der trauernden Zuversicht, die jeder einzelne Adventstag verströmt.

"Es treibt der Wind im Winterwalde
Die Flockenherde wie ein Hirt,
Und manche Tanne ahnt, wie balde
Sie fromm und lichterheilig wird,
Und lauscht hinaus. Den weißen Wegen
Streckt sie die Zweige hin – bereit,
Und wehrt dem Wind und wächst entgegen
Der einen Nacht der Herrlichkeit."

Rainer Maria RilkeUnd ich nippe an meinem Tee, Gewürztee mit Zimtgeschmack, gesüßt mit braunem Rohrzucker, und lächle in mich hinein: Auch dieses Jahr wird der vorweihnachtliche Stress vorübergehen, und auch dieses Jahr werden wir alle am 24.12. mit leuchtenden Augen im Kreis unserer Liebsten unter dem Weihnachtsbaum stehen: Denn die ungestüme Freude der Kinder auf das große Fest schlummert auch in uns – manchmal nur muss man sie leise wachkitzeln. Danke, Rilke, für deine wunderbaren Wintergedichte!

Rilke bei Jokers

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