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Trotz lass nach!

Offiziell sind sie fast so verpönt wie Romane von Rosamunde Pilcher oder Hera Lind. Heimlich aber lesen Eltern sie immer wieder: »Erziehungsratgeber«. In Momenten tiefster Verzweiflung sehnt sich Mama (seltener Papa) nach der universalen Gebrauchsanweisung für den völlig außer Rand und Band geratenen Nachwuchs. Das Kind will nicht ein-, geschweige denn durchschlafen. Es isst kein Gemüse, hasst Windeln und schreit bei jedem kleinsten Anlass Zeter und Mordio, sodass die peinlich berührten Eltern schon auf die anonyme Strafanzeige wegen Kindesmisshandlung warten.

Erziehungsratgeber werden von klugen Menschen geschrieben, die genau wissen, wie der Hase läuft. Da gibt es keine Selbstzweifel, Schuldgefühle oder sonstige Unsicherheiten. Sie locken mit Verheißungen wie: »Das glücklichste Kleinkind der Welt« (Harvey Karp) oder versprechen ruhige Nächte mit selig schlummernden Trotzköpfen (»Jedes Kind kann schlafen lernen« von Annette Kast-Zahn und Hartmut Morgenroth). »Tyrannen müssen nicht sein« behauptet Michael Winterhoff. Respekt, Gehorsam und Fleiß fordert die amerikanische Tiger-Mom Amy Chua in »Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte«. Denn nur Erfolgserlebnisse würden Kinder glücklich machen.

»Smart Love«empfehlen dagegen ihre Landsleute William Pieper und Martha Heinemann Pieper: Stoische Ruhe und liebevolle Aufmerksamkeit statt Druck und Strafen. Die Psychotherapeuten empfehlen, bei Bedarf nicht dem Kind, sondern sich selbst eine Auszeit zu gönnen. »Versuchen Sie, gelassen und freundlich zu bleiben, während Sie korrigierend eingreifen.« Und wenn gar nichts mehr hilft: Verlassen SIE das Zimmer!

Kinder.jpgAlso: Wenn Ihr Spross gerade dabei ist, Ihre wertvollen Bücherschätze zu Malbüchern umzufunktionieren oder mit der Zahnbürste das Klo zu putzen: Nicht schimpfen! Und schon gar nicht ins Kinderzimmer einsperren. Gehen Sie lieber ins Nebenzimmer und atmen Sie tief durch. Natürlich nicht, ohne sich vorher dem Kind erklärt zu haben: »Ich gehe jetzt in mein Zimmer und komme gleich zurück, wenn ich ruhiger bin.« Tun Sie das nicht, droht Ihrem Kind die Gefahr, »sich nach innerer Unzufriedenheit zu sehnen«. Interessant. Und für das liebe Lieschen sicher sinnvoll. Aber bei der zornigen Zoe mutet es etwas utopisch an.

Wissenschaftlich fundierter und etwas unverkrampfter geschrieben ist da das Buch des Kinderarztes und vierfachen Vaters Herbert Renz-Polster: »Kinder verstehen« – Untertitel: »Born to be wild: Wie die Evolution unsere Kinder prägt.« Hier liest man endlich: Alles ganz normal und natürlich.

Kinder leben gefühlsmäßig immer noch in der Steinzeit: Da schleicht nachts das Raubtier um die Schlafstätte, weswegen natürlich auf den sicheren Platz zwischen Mama und Papa bestanden wird. Das Kind mag keinen Spinat? Alles was grün ist, könnte giftig oder zumindest ungenießbar sein. Und wenn man schon mit 2 oder 3 Jahren den Platz auf Mamas Schoß wegen des nächsten Babys räumen muss, dann nur unter entsprechendem Protestgeschrei. Sonst würde Mama womöglich vergessen, dass man auch noch da ist…

Und der erfahrene Vater Renz-Polster beruhigt: Sollten Sie beim nächsten Trotzanfall doch einmal selbst die Fassung verlieren – Ihr Kind wird es Ihnen verzeihen. Solange Sie sich vom Kinder verschlingenden Monster bald wieder in einen sanften Kuschelteddy zurück verwandeln.

Empfehlenswerte Literatur:

* Herbert Renz-Polster: Kinder verstehen
* Herbert Renz-Polster: Menschenkinder – Plädoyer für eine artgerechte Erziehung
* Remo H. Largo: Kinderjahre – Die Individualität des Kindes als erzieherische Herausforderung
* Tom Hodgkinson: Leitfaden für faule Eltern
* Lise Eliot: Was geht da drinnen vor? – Die Gehirnentwicklung in der frühen Kindheit
* William Pieper und Martha Heinemann Pieper: Smart Love

Autorin: Anne Eichmann
Bildquelle: S. Hofschlaeger / pixelio.de

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