Es gibt Leute, die brauchen für jede Lebenslage ein Motto. Mein Nachbar, nennen wir ihn mal Herr Schlau, zum Beispiel. „Ganz nach dem Motto“ ist eine seiner Lieblingseinleitungen für ein morgendliches Gespräch im Treppenhaus. Man will ja höflich sein, und so nehme ich mir eine Minute, mit dem Herrn Schlau zu plauschen.
Jeden Tag aufs Neue entpuppt sich meine Freundlichkeit als Fehler. Denn kaum beachtet, schon entströmen ihm die wunderbarsten Weis- heiten, die populärsten Plattitüden, die nettesten Nichtigkeiten. Nicht, dass ich etwas gegen kluge Sprüche hätte – nur kann ich wenig mit Erkenntnissen anfangen, die einem Kaugummi- Papier, einem Glückskeks oder – pardon – einer Klowand entstammen könnten.
„Eile mit Weile“ führt seit einiger Zeit seine Sprüche-Hitliste an. Dann folgen „Carpe Diem“, „Den letzten beißen die Hunde“ und „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Und so geht es weiter. Mit seinen Sprüchen toppt er sogar noch meine Großmutter, die in jeder Lebenslage ihre Umwelt mit einem mehr oder weniger passenden Motto beglückte.
Heute Morgen habe ich es Herrn Schlau aber gegeben. Und zwar so, dass er mit offenem Mund im Treppenhaus stehen blieb. Ich muss vorausschicken, dass ich mich schon immer für asiatische Philosophie interessiere. Und im Zuge meiner Recherchen stieß ich jüngst auf den chinesischen Schriftsteller Lin Yutang (1895 bis 1976), der durch seine Vergleiche zwischen
chinesischer und amerikanischer bzw. europäischer Kultur bekannt geworden ist.
Von ihm soll der Satz stammen: „Wer das Glück woanders sucht als in sich selbst, der wird es niemals finden.“ Ich war so berührt von diesem Satz, dass ich ihn mir gleich aufschrieb. Und heute Morgen habe ich Herrn Schlau mit diesem Satz beglückt, bevor er selbst eine Weisheit von sich geben konnte. Das verschlug ihm die Sprache und ich kam ohne Stress zur Arbeit.
