
Ausgerechnet ich, ein brav erzogener, Sonntags in die Kirche gehender braver Junge, schockierte meine Eltern mit dem Gebrüll englischer Musiker. Meine Eltern waren tolerant. Ich durfte die Scheibe anhören, während sie das Zimmer verließen. Und wenn ich die Rückseite spielte, „Play With Fire", eine wunderbare Ballade, die ich auch heute noch sehr liebe, schloss meine Mutter die Zimmertüre nicht ganz so heftig wie bei dem krachigen Song von der Seite A der Single. Unglaublich – aber wahr: Damals war man noch mit zwei Liedern zufrieden. Die nudelte man eben Tag und Nacht herunter. Das war toll, sensationell. Und wunderbar: Alle über 16 schüttelten verständnislos den Kopf, waren sauer und verstanden nicht, was diese wahnsinnige Scheibe mit den langhaarigen Schreihälsen für uns bedeutete, die wir zu Hause, auf der Party oder mit dem Kofferplattenspieler im Freibad oder am Baggersee hörten.
Und heute? Heute werden auf einem MP3-Player hunderte, gar tausende Songs heruntergenudelt. Damals wurde der Beat die „britische Sound-Invasion" genannt. Heute bohrt sich die Sound-Invasion durch den MP3-Player durch die Gehörgänge. Jederzeit durch Knopfdruck abrufbar und mit der Shuffle-Funktion in beliebiger Folge abspielbar. Stundenlang. „The Last Time" dauerte knapp drei Minuten. Dann musste die Single vom Plattenspieler genommen und umgedreht werden, damit „Play With Fire" dran kommen konnte. Der Stones-Sound war damals im normalen deutschen Radio-Programm tabu. Abgesehen von Hitparaden für die Jugend. Ein Mal in der Woche.
Am Anfang ihrer Karriere spielten die Rolling Stones in London vor fünfzig Leuten in einem Club. Zwei Jahrzehnte später konnte ich die Stones dann schon im Supermarkt hören, als ich die Kühltruhe nach Essbarem durchsuchte. Ich war schockiert. Der Sound der Revolution im Kaufparadies! Aber warum sollte das nicht sein? Und bald spielten die Stones für die ganze Familie in Stadien. Keine Eltern liefen mehr davon. Im Gegenteil, sie schleppen ihre Kids rein. Gestern las ich im Internet eine Anzeige: „Erleben Sie das Konzert des Jahres wie ein Roadie. Das bietet Ihnen nur die Amercian Express: Backstage-Zutritt zu den Rolling Stones bei ihrer 2006-Tour A Bigger Bang." Unglaublich – aber wahr! Vom Bürgerschreck zum Wirtschaftsfaktor! Die Stones brachten noch viele Songs heraus. Die Beatles auch und die Who und die Kinks und die Troggs und Deep Purple und Led Zeppelin und Queen und die Sex Pistols und Duran Duran und U2 und und und. Ein Strom nicht endender starker Musik riss mich mit.
