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Die Macht der Poesie

Meine kleine Nichte kam aufgewühlt und durcheinander aus der Schule. Nein, kein Junge hatte sie an den Haaren gezogen, es gab keinen Streit mit ihrer besten Freundin, sie hatte keine schlechte Note im Deutsch-Diktat bekommen! Sie hatte ihre Pause mit den 5-Klässlern verbracht, die ein Gedicht auswendig lernen mussten: Rilkes "Panther".

Erinnern Sie sich an die Zeilen? Selbst Erwachsenen gehen sie noch unter die Haut. Zum ersten Mal veröffentlicht wurde das Gedicht im Jahr 1907 in den „Neuen Gedichten“:

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf. – Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.

Das Gedicht hatte meine kleine Nichte beunruhigt. Sie spürte plötzlich, welche Gewalt die Poesie in sich trägt, sie konnte jedoch nicht genau sagen, was es war, was sie aufwühlte. Ich versuchte sie zu beruhigen – mit einem anderen Gedicht von Rilke, Titel „Der Herbst“:

Die Blätter fallen, fallen wie von weit,
als welkten in den Himmeln ferne Gärten;
sie fallen mit verneinender Gebärde.

Und in den Nächten fällt die schwere Erde
aus allen Sternen in die Einsamkeit.

Wir alle fallen. Diese Hand da fällt.
Und sieh dir andre an: es ist in allen.

Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen
unendlich sanft in seinen Händen hält.

Dieses Gedicht las ich meiner Nichte vor. Und siehe da: Die Kleine beruhigte sich wieder.

Wenn auch Sie sich in Rilkes Zauberwelt der Poesie begeben wollen, lege ich Ihnen unsere Auswahl von Rainer Maria Rilke ans Herz. Keine einfache Kost, aber immer Horizonte öffnend.

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