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Welt – bleib draußen

HölderlinEine düstere Geschichte, doch leider ist sie wahr: Die Schwester einer Bekann- ten, eine gestandene Frau von 32 Jahren, hat seit zwei Jahren ihre Wohnung nicht mehr verlassen. Als selbständige Werbetexterin muss sie das eigentlich auch nicht. Ihre Kunden beliefert sie alle per Mail, Post oder Fax. Das mag für den einen ein Fluch sein, für den anderen ein Segen.

Für die Schwester meiner Bekannten ist es beides. Denn dank ihrer Selbständigkeit und einer überfürsorglichen Mutter musste sie irgendwann überhaupt nicht mehr das Haus verlassen. Und konnte so ihre Angst vor der Welt und vor Menschen verbergen. Erst jetzt, in einem langen Gespräch mit ihrer Schwester, stellte sich heraus, dass sie unter Menschen Panikanfälle bekam, dass ihr die Luft wegblieb, sobald sie auf die Straße ging. Dass sie sich von überall bedroht fühlte, beängstigt von der Übermacht der „alltäglichen Gefahren“. Ihr Problem hat einen Namen. Sie leidet an Agoraphobie, auch Platzangst genannt. Für Menschen, die an dieser Krankheit leiden, ist es unerträglich die eigenen vier Wände zu verlassen. Schon ein Schritt vor die Tür verursacht massive Panikattacken.

Als ich diese Geschichte hörte, fiel mir ein, was ich neulich über den deutschen Lyriker Friedrich Hölderlin gelesen habe. Auch er hat lange Zeit (ab 1807 bis zu seinem Tod 1843) in einer Art Enklave, in einer Turmstube (Hölderlinturm), verbracht, die er nur äußerst selten verließ. Auch bei ihm war dieser Zustand krankheitsbedingt, allerdings litt er nicht unter Agoraphobie, sondern unter einem allgemeinen „Wahnsinn“, vermutlich Schizophrenie.

Hölderlin zelebrierte seinen Zustand. Das lässt manche Forscher vermuten, er habe nur simuliert. Das schließen sie daraus, dass Friedrich Hölderlin, der sich in seinen letzten Lebensjahren gern andere Namen wie Scardinelli oder Killalusimeno gab, eine ganz spezielle Methode entwickelte, Besucher zu verscheuchen. Wollte zum Beispiel ein Gast nicht schnell genug gehen, erhob er warnend den Finger und sprach: „Ich bin der Herrgott.“

Wie dem auch sei: Ich möchte weder mit Hölderlin noch mit der Schwester meiner Bekannten tauschen!

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